2020 – Ein Jahr wie ein Sturm – Pandemie und Gedanken dazu

Es ist Herbst. Blätter bringen uns derzeit schönes buntes Laub. Wir befinden uns im ersten Jahr der Corona-Pandemie. Der erste Schock ist verdaut und im Sommer kehrte so etwas wie „Routine“ ein. Nun naht der Winter und mit ihm die finstere Zeit, in der sich vieles für immer verändern wird.

Die Einschränkungen in der Umgebung nehmen zu, auch die ersten Freunde und Bekannten werden mit dem Corona-Virus direkt konfrontiert. Die Angst ist das einzige, was sich noch schneller verbreitet, als das Virus. Die ersten Gaststätten stehen kurz vor einer erneuten Schließung, und dort, wo der finanzielle Gnadenstoß bisher ausblieb, wird die Krise in den nächsten Monaten einige musikalische Kultstätten erbarmungslos niedermähen. Die Welt ist im Wandel und während sich Politik und Länder auf unterschiedlichen Ebenen streiten, viele Menschen von der digitalen Welt im Geist endgültig vergiftet werden und sich die Nachrichtensender untereinander einen unerbittlichen Kampf um neue Zahlen und Katastrophenmeldungen liefern, setze ich meinen Geist auf Standby. Von außen schaue ich darauf, was gerade in der Welt passiert und lasse das Jahr 2020 erneut Revue passieren; Doro alleine auf dem Rock Hard Festival, Blind Guardian auf dem Wacken Live Stream und Katatonia live online, ohne direkte Zuschauer. „Wir können euch nicht sehen, aber wir wissen, dass ihr da seid“ sagte Sänger Jonas Renkse während des Gigs und sprach das aus, was vielen Bands im neuen Live Gewand zu schaffen macht. Angst um das Virus macht sämtliche Grenzen dicht, zwingt zum Umdenken und lässt alte Konzerte in epischer Erinnerung erscheinen. Wie war das nochmal, als ich Bolt Thrower in Essen live gesehen hatte? Ein Gedränge vor dem Merch Stand, Extase ab der ersten Sekunde des Gigs auf und vor der Bühne und Blut, Schweiß und Tränen in der Pit. Die Magie, inmitten Gleichgesinnter zu sein, wird ersetzt durch die digitale Anonymität des Internets und des Live Streams.

Die Pandemie hatte jedoch auch positive Wirkungen; so wurden alle während des Lockdowns für das sensibilisiert, was wirklich zählt: die Familie. Alltägliche Sorgen, wie Urlaubspläne, Rivalitäten im Job oder Eifersüchteleien rückten hier in den Hintergrund, als es darum ging, die Situation zu überstehen und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Allerdings kamen andere Sorgen hinzu: Existenzängste, keine Privatsphäre innerhalb der Familie (besonders in kleineren Wohnungen mit mehreren Kindern) und der Spagat zwischen Job und Familie. Ein Kraftakt, den einige nicht ohne Spuren überstanden haben und auch noch weiter als Narbe mit sich tragen werden. Wer zurückgezogen lebt wie ich, hat etwas Glück gehabt und kommt mit der sozialen Distanz zu dem Rest der Welt relativ gut zurecht. Andere dürften sehr unter der Situation gelitten haben und werden noch einen harten Winter vor sich haben.

Dann gab es noch die groteske Seite, die mich immer noch den Glauben an die menschliche Vernunft verlieren lässt; Hamsterkäufe von Klopapier, übertriebene Sicherheitsmaßnahmen (nicht mal einheitlich) und Verschwörungstheoretiker, die über das Internet oder auf Demos die Situation noch weiter zum Köcheln brachten. Etwas auf Vorrat zu kaufen ist nicht verkehrt, aber hier sollte mit vernünftigem Maß gemessen werden. Auch die Sicherheitsvorkehrungen sind für mich teilweise logisch nicht nachvollziehbar; da müssen beispielsweise Hochzeiten abgesagt und Beerdigungen eingeschränkt werden, während ein Wochenende später in Berlin eine Großdemo abgehalten wird. Entweder man sichert sich komplett gegen eine weit verbreitete Infektion ab oder man lässt es ganz bleiben! Hier geriet die Politik klar ins Kreuzfeuer der Kritik, was dich diverse Magazine konstant weiter befeuert wurde und den Verschwörungstheoretikern immer neues Futter gibt. Die Wahrheit liegt meiner Meinung nach irgendwo in der Mitte; man sollte auf seine Gesundheit achten, sich und andere schützen, aber auch die medialen Overkills nicht zu nah an sich ran lassen und in Panik verfallen. In China wurde ein gutes Zitat gebracht: „Ich trage die Maske aus Respekt vor meinem Gegenüber und um denjenigen zu schützen.“ Das sagt meiner Meinung nach alles darüber aus, wie wir auch hier damit umgehen sollten.

Was passiert allerdings langfristig? Der Vorteil am Älterwerden: Man erlebt sehr viel. Der Nachteil: Man sieht, wie Bekanntes und Geliebtes von der Bildfläche verschwindet. Ich habe Angst davor, dass meine kleine Tochter Plattenläden, wie beispielsweise Idiots Records in Dortmund, nur noch aus Erzählungen ihres alten Vaters kennt. Konzerterlebnisse mit Pit, gepflegtem Bierchen und netten Leuten dürften bald sehr selten werden und auch einige Kultläden sind bereits verschwunden. Im Old Daddy in Haltern zum Gothic abgerockt (abgerissen), im Soundgarden von Dortmund die Release Party zu Moonspell´s „Irreligious“ und andere Konzerte erlebt (auch abgerissen), oder als Stammgast im Dortmunder Spirit (dicht gemacht). Erst vor wenigen Wochen kam die Nachricht, das DJ Mimi (40 Jahre Kult DJ vom Spirit) verstorben ist. Die Symbolik trifft mit ungebremster Wucht in meinen Geist, denn alles was einmal mein zweites Zuhause war, schwindet mehr und mehr. Die Pandemie bedroht nun auch meine Lieblingsfestivals Party San und das Rock Hard. Ob und wann sie in welchem Rahmen auch immer noch einmal stattfinden werden, ist ungewiss. Wir rasen immer mehr auf das Ende einer alten Welt zu, in der Digitalisierung und Anonymität dominieren. Live Streams, statt Konzerte. Downloads statt Vinyl und CDs. Der Tod von Kultkneipen und Discos. Ich habe nichts gegen den technischen Fortschritt, allerdings sollte man sich dabei stets in Erinnerung rufen, dass hinter jedem Download, hinter jedem Album und hinter jedem Auftritt, jede Menge Arbeit und Herzblut der Künstler und Organisatoren steckt. Das kann man nicht einfach mit einem Like abnicken, dafür bedarf es mehr als das. Ich unterstütze meine Lieblingsbands, indem ich deren Merchandise kaufe, mit ihnen im Kontakt bin (egal, ob per E-Mail oder in Form eines Kommentares) und möchte ihnen so zeigen, dass ich ihre Arbeit zu schätzen weiß und sie mir viel bedeutet. Ich denke gerade in diesen Zeiten ist nicht viel nötig, um das Wichtigste zu geben, worauf es ankommt: Einfach da zu sein und präsent zu sein.

Wenn ich in einigen Jahren auf diese Zeilen zurückblicke, werde ich mich wahrscheinlich wundern, wie sich der Übergang zum neuen Zeitalter angefühlt hat. Allerdings sollte sich jeder von uns fragen, wie er den neuen Abschnitt beginnen wird. Ich bin davon überzeugt, dass nach diesem Winter nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Dafür sind die Weichen gestellt und es ist an uns etwas daraus zu machen, damit unsere Kinder dankbar darin aufwachsen können, um ihre eigene Welt zu formen. Sofern die Kunst (egal aus welchem Bereich heraus) darin eine Rolle spielen soll, müssen wir uns anstrengen, damit unsere Seelen weiterhin inspiriert und gefüttert werden. Ohne Kunst wird es still und anders, es fehlt uns der Ausgleich auf der zweiten Seite der Lebenswaagschale.

Dies waren meine eigenen Gedanken an einem grauen Herbsttag im Oktober zur derzeitigen Situation. Kommt bitte alle gut durch die kommende Zeit. Füttert Eure Seelen mit Musik, Lektüre und anderem Kulturgut. Die Branche braucht Euch und wir brauchen die Kultur als wichtigen Zweig in unserem Leben!

Euer Sebastian Radu Groß

Titelbild / PhotoCredit: Dirk Jacobs

 

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